Die Pandemie als sozioökonomische Gemengelage.
Wie viel an zusätzlichem monatlichen Einkommen eines derzeitigen Volksschülers ab 2050 entspricht ein im November 2019 verstorbener 65-Jähriger Patient auf der Intensivstation, der Vorerkrankungen im Herz-Kreislauf System hat?
Bitte keine utilitaristischen Argumente mehr
Wäre die gesamte Situation rund um die derzeit in allen Milieus wirksame Pandemie mit dem SARS-CoV-2 Virus nicht insgesamt so ernüchternd und im wahrsten Sinne des Wortes ermüdend, hätten wir Sozioökonomen hier ein besonders interessantes Modell, die Gesellschaft als Ganzes, ihre Entscheidungs- und Bewertungskriterien und das Verhältnis von Ökonomie und Gesellschaft im Detail zu studieren.
Am Beispiel der aktuellen Diskussion um die Schulschließungen als – wie es Clemens-Martin Auer heute im Morgenjournal genannt hat – „ultima ratio“ kann man diese Grenzlinie sehr schön sehen. IHS (Mario Steiner und Martin Kocher) und WIFO(Julia Bock-Schappelwein und Ulrike Famira-Mühlberger) argumentieren in ihren jeweiligen policy papers mit sozialen, psychologischen und ökonomischen Faktoren, Kosten, die als entfallendes Einkommen und als gesamtgesellschaftliche Kosten zu erwarten sind, wenn Kinder nicht ausgebildet werden. Neben der tatsächlichen harten ökonomischen Auswirkung über den zukünftigen Einkommensverlust ergeben sich sozioökoniomische Effekte, weil „distance learning viel stärker auf benachteiligte Familien auswirkt, die ihr kulturelles Kapital (vgl. Die Theorien Pierre Bourdieus) nicht über die Generationen vererben können. Auch die sozialen Organisationen Österreichs, koordiniert in der BAG argumentieren ähnlich: Auch die Pflege in der Familie ist oftmals nur möglich, wenn nicht zeitgleich Kinderbetreuungspflichten nachzukommen ist. Damit wird ein erstes unmittelbares Wirkungsargument in den Diskurs eingebracht.
Doch was ist die Gegenseite, was will man durch die Schulschließung verhindern? Die medizinische Idee ist es, den Bottleneck im Gesundheitswesen zu sichern, die Intensivbetten. Da existiert in Österreich eine kaum veränderbare Obergrenze an systemischen Betten, also einem System aus technischen, logistischen und personellen Ressourcen, das in der Lage ist, schwerst erkrankte über viele Tage mit Sauerstoff zu versorgen, zu beatmen und maximalinvasiv das Leben zu retten. Diese Grenze ist – anders als die Maßnahmen nicht gesellschaftlich verhandelbar. Langfristig – und wir sprechen hier von mehreren Jahren, lässt sich die Zahl der Intensivbetten absolut auch erhöhen, was zur Zeit geht, ist eine relative Erhöhung, indem man versucht, andere Patient_innen erst gar nicht dort hin kommen zu lassen, wenn es nicht notwendig ist. Also keine Hüftoperationen, die planbar sind, keine Brustvergrößerungen, Magenbänder, …
Doch diese Maßnahmen sind längst passiert. Aus heutiger Sicht (11. November) wird diese absolute Grenze Mitte bis Ende November erreicht sein. Ab dann werden Personen sterben, die keine Intensivbetten erhalten können. Wer das ist, das muss vor Ort entschieden werden, durch die sogenannte Triage, eine ethisch herausfordernde Priorisierung durch die behandelnden Ärzte. Zahlreiche medizinische Publikationen zum Thema existieren (eine Abfrage auf Google Scholar liefert interessante Ergebnisse) , die Methode hat sich aus der Kriegs- und Katastrophenmedizin entwickelt, wo es relevant ist, jenen zu helfen, die die höchsten Überlebenschancen zu haben.
Hier kann man schon erkennen, dass die Grundrationalität für die Entscheidungen eine andere ist, als bei den Argumenten gegen die Schulschließung. Während die Argumente gegen die Schließung aus den Perspektiven der Ökonomie und der Verteilungsgerichtigkeit entstammen, ist die absolute Grenze der Intensivstation aus Steuerungssicht eine nahezu physikalische Konstante und die Triageentscheidungen sind medizinischer und ethischer Natur. Ist jemand, der eine höhere Überlebenschance hat nicht vielleicht sogar jemand, der tendenziell gesünder gelebt hat – daher statistisch wohl eher aus einem nicht benachteiligten Milieu?
Nun könnte man – will man sich auf die monoperspektivische Argumentationslinie der Ökonomie begeben – ceteris paribus – die verhinderten Toten über deren weitere Lebensjahre (cave Konzept der quality adjusted life years ist in höchstem Maße utilitaristisch) in volkswirtschaftliche und individualökonomische Kosten/Erträge umrechnen. Wir sind nun aber schon in sehr ökonomistischen Perspektiven, denn wie viele Intensivpatient_innen kann eine Schulschließung verhindern? Oder noch brutaler ausgedrückt, wie viel an zusätzlichem monatlichen Einkommen eines derzeitigen Volksschülers ab 2050 entspricht ein im November 2019 verstorbener 65-Jähriger Patient auf der Intensivstation, der Vorerkrankungen im Herz Kreislauf System hat? Fragen, die auch ein Ökonom so wohl nicht beantworten möchte. Hier ein Tweet, der mich zu diesen Gedanken angeregt hat:
Die Intensivmedizinerin in mir denkt: Schulen zu
— Traveleve (@Traveleve2) November 10, 2020
Die Mutter in mir denkt: Schulen offen.
Die Bürgerin in mir denkt: denken hätte geholfen, dass wir nicht in diesem Schlamassel stecken würden https://t.co/B3abebdKps
Ich denke es braucht daher in Zeiten wie diesen breite und generalisierte Diskussionen über gesellschaftliche Ziele, über ethische Grundlagen und darüber mit welchen Maßstäben wir gemeinsam bewerten wollen, was die nächsten Schritte sein sollen. Das ist in Zeiten der Krise natürlich viel schwieriger, denn es gibt Entscheidungsträger_innen, die dann mit normativer Kraft des Faktischen argumentieren. Denn wenn man nur lang genug wartet gibt es – wie Margret Thatcher gesagt hat: no alternative.
Dazu braucht es eine ausgewogene Entscheidungsfindung, einen breiten Diskurs und Formate, die solche Diskussionen zulassen, ohne dass sofort ideologische Dobermänner (es sind meist keine Frauen) den Diskurs zerstören, um ihre Gesichter zu den Scheinwerfern der Medien zu drehen. Es braucht dazu Journalist_Innen, die mehr berichten, als den LiveTicker aus der Pressekonferenz von Regierung und Opposition. Werden wir das je schaffen? Ich fürchte nicht.