Konzeptpapier: Habitus

Habitus


Als Habitus bezeichnet Bourdieu die strukturellen Dispositionen, die in weiterer Folge sämtliche Praxis strukturieren. Im Habitus äußern sich daher die inkorporierten Makrostrukturen der Gesellschaft auf persönlicher Mikroebene der AkteurInnen. In den Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata der gesellschaftlichen Akteure manifestieren sich daher die gesellschaftlichen Normen und Werte. Diese äußern sich vielfältig, beginnend bei der Bedeutung von Symbolen bis hin zum „Geschmack“. (Bourdieu, Steinru?cke 2005, S. 61–63)

„Bourdieu geht davon aus, daß wir von Kindheit an in der Familie, in der Schule, in der Arbeitswelt bestimmte Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata antrainiert bekommen, die es uns erlauben, in der Regel problemlos auf unterschiedliche Situationen zu reagieren, praktische Aufgaben zu lösen, etc. Unsere Körperbewegungen, unser Geschmack, unsere banalsten Deutungen der Welt werden schon frühzeitig geformt und bestimmen dann in entscheidendem Ausmaß unsere weiteren Handlungsmöglichkeiten.“ (Joas 2004, S. 533)

Der Habitusbegriff geht auf Klassiker wie Aristoteles zurück, von wo er in die mittelalterliche Scholastik seinen Weg fand und beschreibt in vielschichtiger Bedeutung den Komplex von Fähigkeiten, Gewohnheiten, Haltung, Erscheinungsbild oder Stil eines individuellen Akteurs. Für Pierre Bourdieu ist er handlungsermöglichend in dem er entlastet und damit rasches situationsgerechtes Agieren erlaubt. (Bohn, Hahn 2007, S. 295; Krais, Gebauer 2002, S. 18f)

„Der Habitus als ein System von – implizit oder explizit durch Lernen erworbenen – Dispositionen, funktionierend als ein System von Generierungsschemata, generiert Strategien, die den objektiven Interessen ihren Urheber entsprechen können, ohne ausdrücklich auf diesen Zweck ausgerichtet zu sein.“ (Bourdieu 2001, S. 113)

Der Habitus vermittelt zwischen Struktur und Praxis und hat folgende vier Eigenschaften: aufgrund von Sozialisation ist er internalisierte Gesellschaftsstruktur; er steuert unbewusst über ein System von Dispositionen die Praxisformen; die Individuen folgen trotzdem den eigenen Interessen und Strategien; die Dispositionen sind dauerhaft und stabil, werden oftmals schon in kindlicher Sozialisation internalisiert. (Müller 1992, S. 257f)

„Der Habitus ermöglicht die freie Produktion aller Gedanken, Wahrnehmungen und Aktionen innerhalb der Grenzen seiner besonderen Produktionsbedingungen. Die Struktur deren Produkt er ist, leitet die Praxis. Der Habitus sichert eine kontrollierte und bedingte Freiheit, die ebenso weit von einer unvorhersehbaren Kreation, wie von einer einfachen und mechanischen Reproduktion der ursprünglichen Existenzbedingungen entfernt ist.“ (Iser 1983, S. 59)

Wesentlich erscheint in diesem Zusammenhang, dass sich die Wirkung des Habitus unbewusst entfaltet. Die subjektiven Dispositionen stellen sich dem Individuum als Handlungsmöglichkeiten dar, die in einer bestimmten Situation bestehen, als Wahlfreiheit oder Alternativen, nicht als Begrenzung der individuellen Freiheit.

„Gleichsam zwischen Charaktermaske[1] und moralischer Persönlichkeit[2] angesiedelt ist das Konzept des Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis. Der Habitus ist definiert als System von Dispositionen, die im Alltagsleben als Denk-, Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata fungieren und deren Prinzipien sozialer Klassifikation als Klassenethos zum Ausdruck kommen“ (Müller 1992, S. 254f)

In Bourdieus Feldtheorie steht der Habitus der AkteurInnen sozusagen als individueller Schlüssel zum Feld: „Wichtig ist, dass sich die habitualisierten Dispositionen eines sozialen Akteurs in Auseinandersetzung mit der Praxis des Feldes bilden und gegebenenfalls verändern. In der extremsten Form entsteht so ein Habitus, der sich ausschließlich mit dem Feld identifiziert, weil der soziale Akteur seinen gesamten praktischen Sinn aus der Praxis des Feldes gewinnt. So wird er zum Apparatschik, der dem Apparat alles verdankt, und ist folglich nichts weiter als der ‚Mensch gewordene Apparat’“ (Bourdieu 1997d: 44f. zit. in: Hillebrandt 1999, S. 14).

Der Habitus vermittelt für Bourdieu zwischen der Stellung einer Person im sozialen Raum – also auch im beobachteten Feld – und ihrem Verhalten und Einstellungen. Im Habitus hätten sich ihre individuellen Erfahrungen und die ihrer Familie und ihrer Klasse (im Sinne kollektiver Geschichte) verkörperlicht. Zwar sei ausgeschlossen, dass die Mitglieder einer Klasse exakt dieselben Erfahrungen und das auch noch in der gleichen Reihenfolge machten, die Aussicht, mit für diese Klasse typischen Situationen konfrontiert zu werden, sei für sie aber sehr viel größer als für die Angehörigen der anderen Klassen. Dieser Habitus stimmt objektive Chancen und subjektive Erwartungen unter Berücksichtigung der eigenen Grenzen aufeinander ab – er verbindet nutzenorientierte Strategien mit Klassen- und Feldspezifischen Verhaltensformen. (Müller 1986, S. 163; Hartmann 2005, S. 259; Iser 1983, S. 61f)

„Der Habitus ist nicht nur Ausdruck »ausdifferenzierter« gesellschaftlicher Felder, wie man dies aus einer eher systemtheoretischen Perspektive sagen würde. Habitusformen sind auch Produkte bestimmter Klassenlagen, bestimmter sozialer Milieus, die genau diese Klassenlagen und sozialen Milieus reproduzieren.“ (Joas 2004, S. 548)

Eine wichtige Eigenschaft des Habitus ist der so genannte „Hysteresis-Effekt“. Bourdieu geht davon aus, dass habituelle Dispositionen über lange Zeit konstant bleiben, also auch noch, wenn sich die Umwelt des Akteurs oder auch das für den Habitus verantwortliche Feld schon längst verändert haben. Durch die langsame Anpassung des Habitus passen die inkorporierten Strukturen nicht mehr zur objektiven externen Struktur, also aufgrund der langsamen Veränderung der strukturierenden Struktur im Vergleich zur Realität stehen die subjektiven Bewertungsschemata nicht im Einklang mit den externen Bewertungsschemata des Feldes oder der Gruppe. Dann werden beispielsweise falsche symbolische Kapitalien zugeschrieben, wie das etwa im Bereich des institutionalisierten kulturellen Kapitals passieren kann. Auch Generationenkonflikte entwickeln sich aufgrund dieses Hysteresis-Effekts. Man erkennt, der Habitus wirkt aufgrund seiner langsamen Adaption als konservierender Faktor durch die Determinierung der Möglichkeiten des Handelns. Diese konservative Eigenschaft hilft mit, den Habitus in Krisen vor der „Infragestellung“ zu schützen (Iser 1983, S. 63f; Bohn, Hahn 2007, S. 297).

„Der Habitus ist das generative und vereinheitlichende Prinzip, das die intrinsischen und relationalen Merkmale einer Position in einen einheitlichen Lebensstil rückübersetzt, das heißt in das einheitliche Ensemble der von einem Akteur für sich ausgewählten Personen, Güter und Praktiken.“ (Bourdieu 2007b, S. 21)

Bourdieu erklärt also mit seinem Habituskonzept die Feldwirkung auf individueller Ebene. Er benutzt dazu eine doppelte Wirkung, die er generatives und reproduzierendes Prinzip nennt. Auf der einen Seite strukturiert der Habitus soziale Praxis und auf der anderen Seite reproduziert er soziale Struktur. (Iser 1983, S. 53)

„Er ist ein generatives Prinzip und somit »strukturierende Struktur« bzw. »opus operandi«, insofern er sozial strukturierende Praxisformen hervorbringt, die im Lauf der Zeit durch individuelle Aneignung oder, wie Bourdieu sich ausdrückt: durch Einverleibung gesellschaftlicher Strukturen und die Ausbildung dauerhafter Dispositionen ermöglicht werden. Der Habitus ist reproduzierendes Prinzip und somit »strukturierte Struktur« bzw. »opus operatum«, insofern die individuelle Praxisformen den sozial strukturierten Dispositionen gemäß gewählt werden und auf diese Weise zur Aufrechterhaltung der ursprünglichen strukturellen Konstellationen beitragen.“ (Müller 1992, S. 256)

„Die »Subjekte« sind in Wirklichkeit handelnde und erkennende Akteure, die über Praxissinn verfügen […], über ein erworbenes Präferenzensystem, ein System von Wahrnehmungs- und Gliederungsprinzipien (das, was man gewöhnlich den Geschmack nennt), von dauerhaften kognitiven Strukturen (die im wesentlichen das Produkt der Inkorporierung der objektiven Strukturen sind) und von Handlungsschemata, von denen sich die Wahrnehmung der Situation und die darauf abgestimmte Reaktion leiten läßt.“ (Bourdieu 2007a, S. 41)


Literaturverzeichnis

Bohn, Cornelia; Hahn, Alois (2007): Pierre Bourdieu (1930-2002). In: Käsler, Dirk (Hg.): Von Talcott Parsons bis Anthony Giddens. 5., überarb., aktualisierte und erw. Aufl. München: Beck (Beck’sche Reihe, 1289), S. 289–310.

Bourdieu, Pierre (2001): Über einige Eigenschaften von Feldern. In: Bourdieu, Pierre; Beister, Hella; Schwibs, Bernd (Hg.): Soziologische Fragen. Dt. Erstausg., 1. Aufl., [Nachdr.]. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Edition Suhrkamp, 1872 = N.F., 872), S. 107–114.

Bourdieu, Pierre (2007a): Das neue Kapital. In: Bourdieu, Pierre; Beister, Hella (Hg.): Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Dt. Erstausg., 1. Aufl., [Nachdr.]. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Edition Suhrkamp, 1985 = N.F., 985), S. 34–55.

Bourdieu, Pierre (2007b): Sozialer Raum, symbolischer Raum. In: Bourdieu, Pierre; Beister, Hella (Hg.): Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Dt. Erstausg., 1. Aufl., [Nachdr.]. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Edition Suhrkamp, 1985 = N.F., 985), S. 15–35.

Bourdieu, Pierre; Steinru?cke, Margareta (2005): Die verborgenen Mechanismen der Macht. Unvera?nd. Nachdr. der Erstaufl. von 1992. Hamburg: VSA-Verl. (Schriften zu Politik & Kultur / Pierre Bourdieu. Hrsg. von Margareta Steinru?cke, 1).

Hartmann, Michael (2005): Eliten und das Feld der Macht. In: Colliot-Thélène, Catherine; Bourdieu, Pierre (Hg.): Pierre Bourdieu Deutsch-französische Perspektiven. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1752), S. 255–275.

Hillebrandt, Frank. (1999): Die Habitus-Feld-Theorie als Beitrag zur Mikro-Makro-Problematik in der Soziologie – aus der Sicht des Feldbegriffs. Technische Universität Hamburg-Harburg. Hamburg. (Working Papers zur Modellierung sozialer Organisationsformen in der Sozionik, WP2).

Iser, Maria (1983): Der Habitus als illegitimer Normalfall gesellschaftlicher Reproduktion. Die soziale Bedeutung von symbolischer Gewalt und strukturgesteuertem Lernen und Handeln in der Theorie von Pierre Bourdieu. Dissertation. Betreut von Michael Hofmann und Stefan Titscher. Wien. Wirtschaftsuniversität Wien, Allgemeine Betriebswirtschaftslehre.

Joas, Hans (2004): Zwischen Strukturalismus und Theorie der Praxis – die Kultursoziologie Pierre Bourdieus. In: Joas, Hans; Knöbl, Wolfgang; Joas, Hans; Knöbl, Wolfgang (Hg.): Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen. Orig.-Ausg., 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1669), S. 518–557.

Krais, Beate; Gebauer, Gunter (2002): Habitus. Bielefeld: Transcript-Verl. (Einsichten).

Müller, Hans-Peter (1986): Kultur, Geschmack und Disinktion. Grundzüge der Kultursoziologie Pierre Bourdieus. In: Neidhardt, Friedhelm; Lepsius, M Rainer; König, René (Hg.): Kultur und Gesellschaft. René König, dem Begründer der Sonderhefte, zum 80. Geburtstag gewidmet. Opladen: Westdt. Verl. (Kölner Zeitschrift für Soziologie und SozialpsychologieSonderheft, 27), S. 162–189.

Müller, Hans-Peter (1992): Die soziokulturelle Ungleichheitstheorie. In: Müller, Hans-Peter (Hg.): Sozialstruktur und Lebensstile. Der neuere theoretische Diskurs über soziale Ungleichheit. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 982), S. 238–351.


[1] Begriff im theoretischen Werk von Karl Marx [Anm. GC]

[2] Begriff im theoretischen Werk von Emile Durkheim [Anm. GC]

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