Einige Begriffe machen seit geraumer Zeit immer wieder die Runde durch die Medien und Politikerinterviews. Es sind klassische Diskursbegriffe zur Sozialstruktur, die jeder verwendet, aber gleichzeitig unterschiedlich versteht oder interpretiert, da hier in den Begriff die eigene Position im sozialen Raum mit definiert wird. Ich möchte mich nicht an der Diskussion über (Reichen-) Steuern beteiligen, sondern versuchen, durch die Begriffsklärung mal einiges klar zu stellen.
Mittelstand, das Pfui-Wort.
Der gerne verwendete Begriff „Mittelstand“ referenziert in Österreich – man hat den Eindruck durchaus bewusst – auf den Ständestaat jener Euphemisierung der autoritären Diktatur, die unter Schuschnigg und Dollfuß im Österreich vor dem „Anschluß“ an das Nazi-Regime herrschte. Diese Begrifflichkeit ist aber in jedem Fall wieder ein Verweis auf vormoderne soziale Strukturen, also auf eine Zeit, zu der Industrie, Wirtschaft und Kapitalismus noch kein Thema war.
Als Stand, so schreibt Wikipedia, wird eine gesellschaftliche Gruppe bezeichnet, die aufgrund rechtlicher und kultureller Rahmenbedingungen klar voneinander getrennt waren. Die Mobilität unter jenen Gruppen war gering, die Ordnung war daher eine sehr statische. Auch die Partizipationsmöglichkeit am politischen System war für viele Stände stark eingeschränkt. Das strenge indische Kastensystem könnte man auch heute noch als solche ständische Gesellschaft bezeichnen.
Wenn also heutzutage vom „Mittelstand“ gesprochen wird, so ist das entweder die Perspektive der Elite, die denen „da unten“ mitteilen möchte, dass sie sich aus ihrem Sumpf aufgrund der starren Struktur nicht zu befreien in der Lage sind, oder – und das ist die wahrscheinlichere Perspektive – es geht um die Abgrenzung nach unten, zum „Lumpenproletariat“, wie das zu Beginn der Industrialisierung genannt wurde.
Besonders interessant finde ich die Definition des Mittelstands, wie sie von der Mittelstandsvereinigung Österreichs verwendet wird:
Mittelstand ist eine Geistes- und Wertehaltung in Bezug auf Leistung, Ethik und soziale Verantwortung.
Zum Mittelstand gehören alle, die einen kreativen und produktiven Beitrag zum Wohle der Gesellschaft leisten.
Es ist also eine Position ex nihilo, die lediglich Wertehaltung und Kultur als Maßstab sieht, eine Art selbstbezügliches System, einer Religion gleich. Interessant sind daher auch die Exponentinnen dieser Organisation, die ich Aufgrund der Herkunft alle eher in die elitären Bereiche der Gesellschaft verortet hätte – wohl auch ein Zeichen des Understatements jener oftmals aus dem „Adelsstand“ stammenden Exponenten und der Ideologisierung dieses „Standes“-Begriffs.
Mittelklasse, die Bourgeoisie.
In der Sozialtheorie nach Karl Marx wird die Gesellschaft in Klassen eingeteilt, dabei wird einerseits bereits auf ökonomische Parameter zurückgegriffen, andererseits ist aber auch das Klassenbewusstsein, also die Selbstreferenz der beteiligten Individuen auf ihre Herkunft von Bedeutung. Aus diesen Klassen definiert sich, so Marx in seiner Erweiterung der Hegelschen Dialektik automatisch ein Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnis. Wenig überraschend ist auch diese Begrifflichkeit politisch konnotiert – es wird daher eher unmöglich von Klassen zu sprechen, ohne die Marxistische Theorie (oder ihre Abneigung) mitschwingen zu lassen, mit ihren Klassenimmanenten Konflikten. Für eine Wert-neutrale Diskussion erscheint der Begriff daher ähnlich ungünstig, wie jener des Standes.
Es gibt zwar noch andere Klassendefinitionen, beispielsweise von Dahrendorf oder von Bourdieu – allen gemein ist jedoch die Grundidee der politischen, sozialen und kulturellen Interdependenz der jeweiligen Klassenlagen.
Mittelschicht, weichgespült und ideologisch sauber?
Geht man von der Grundidee aus, dass sich die Gesellschaft aus sehr, sehr vielen unterschiedlichen Individuen zusammensetzt, so finden sich je nach betrachtetem Merkmal trotzdem gleiche oder ähnliche Individuen. Nimmt man beispielsweise das monatliche Haushaltseinkommen, so wird es Personen mit sehr wenig Einkommen geben, einige haben durchschnittlich viel an Einkommen und andere haben viel (oder unverschämt viel) Einkommen.
Als Schicht bezeichnet man nun Individuen ähnlicher Einkommen, die sich – kaum überraschend – auch in Mentalität, kultureller Identität und Herkunft ähnlich sind. Es ist sozusagen die Grenze nicht aufgrund der Kultur oder der Herkunft getroffen, sondern eine Sekundärvariable definiert die Schichtzugehörigkeit, die über verschiedene soziale Mechanismen indirekt trotzdem in vielen Fällen die interdependenten weiteren Variablen (Herkunft, Bildung, Kultur, …) prädeterminiert.
Milieus: Ganz neutral?
Um noch weiter zu abstrahieren und der Komplexität moderner (oder post-moderner, radikalisiert moderner, …) westlicher Gesellschaften gerecht zu werden, hat man den Milieubegriff geprägt. Der „Milieu“-Begriff geht davon aus, dass der Lebensstil von Menschen nicht nur auf Grund äußerer Umstände, sondern auch von inneren Werthaltungen geprägt wird. Der Begriff „soziales Milieu“ bezieht sich damit auf Gruppen von Individuen mit ähnlichen Lebenszielen und Lebensstilen und umfasst Mentalität und Gesinnung der Personen. Durch die zunehmende Pluralisierung der Gesellschaften und die Individualisierung der Lebensstile wird die vormals enge Verknüpfung zwischen sozialer Lage und Milieus gelockert, auch wenn soziale Milieus weiterhin nach Status und Einkommen hierarchisch eingeordnet werden können. Im Marketing werden Modelle der so genannten Sinus-Milieus verwendet. Interessant ist, dass im Vergleich der Sinus-Milieus D-A-CH in Österreich die „Bürgerliche Mitte“ mit 19% deutlich größer ist, als in Deutschland oder der Schweiz.
Zurück zu Klassen und Ständen?
Auch wenn sich die theoretischen Begriffe zur Beschreibung von sozialer Ungleichheit – und das ist ja des Pudels Kern – verändert haben, ein enger Zusammenhang zwischen der Herkunft, der Bildung und dem verfügbaren finanziellen Ressourcen (das muss jetzt nicht direkt das Einkommen sein), sowie den grundlegenden Werten und Einstellungen besteht, die Frage ist immer nur, von welcher Seite man das Pferd aufzäumt. Unpolitisch und ohne jegliche ideologische Konnotation kann man Ungleichheit ja schwerlich beschreiben. Daher ist es umso verständlicher, wenn Personen aus der wirtschaftlichen Elite (zumindest einige ExponentInnen in Österreich, im Rest Europas gibt es da andere Beispiele) versuchen, im Diskurs fatalistischere Begriffe zu verwenden, die die Unausweichlichkeit der bestehenden Strukturen zu zementieren versuchen.
So etwas wie ein Fazit.
Unverständlich ist mir, dass man sich Diskussionen über Schein-Themen liefert, als dass man gleich diskutiert und entscheidet, wie viel Ungleichheit man in der Gesellschaft zu akzeptieren bereit ist und was man an Maßnahmen setzt um diese Schranken dann auch einhalten zu können.
In einem Journal-Panorama zum Thema Island nach der Krise hörte ich einen Ökonomen, der sagte, dass die Isländer gewohnt seine, dass der Kapitän das Dreifache eines Matrosen verdiene, und dass das akzeptiert werden würde – mehr aber aus Isländischer Sicht unmoralisch sei. Wie hoch diese Quote aus Sicht der Österreicherinnen und Österreicher sein sollte, das wäre zur Zeit die Frage, die man stellen müsste.
… bitte bedenke bei deiner ‚Unterstellung‘, „Personen aus der wirtschaftlichen Elite [würden] versuchen, im Diskurs fatalistischere Begriffe zu verwenden, die die Unausweichlichkeit der bestehenden Strukturen zu zementieren versuchen“, dass die Einführung einer Reichensteuer weltweit auch von eben jener Elite gefordert wird. Das ändert wenig an deinem Argument, weil die Forderung natürlich auf den Erhalt des bestehenden Wirtschaftssystems mitsamt seiner Ungleichheit zielt, doch vermag der Verweis die Sache etwas objektiver erscheinen lassen. Der Fraktionschef der Linkspartei Gregor Gysi hat das in einer sehenswerten Bundestagsrede kürzlich rhetorisch gut verbunden (ich finde nur den Link dazu nicht mehr)
Danke für Deinen Kommentar, das war wohl zu Austrozentrisch, denn da unterscheiden sich die Eliten in der BRD von der Orthodoxie in .at.