Unter dem Titel: IRAK – mein Tagebuch der Hilfe berichtete Martina Schloffer im Jahr 2003 direkt aus Bagdad, wo sie von Mai bis September 2003 als Delegierte des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz stationiert war. Wir veröffentlichen dieses Tagebuch nun auch in unserem Einsatzblog.
Die ersten Tage nachdem unser Kollege Nadisha Yasassri Ranmuthu ums Leben gekommen ist, waren wir wie paralysiert. Nadisha ist am 22. Juli gestorben, nachdem sein Auto von Unbekannten auf der Straße zwischen Hilla und Bagdad beschossen wurde. Es sind „strange days“, wir befinden uns in einer sehr eigenartigen Situation.
Da ist einmal die emotional psychologische Ebene. Wir haben jeden Tag mit Nadisha gearbeitet, er war so ein freundlicher, lieber Mensch. Am Tag nach seinem Tod hätte er nach Hause fliegen sollen, sein Vertrag war zu Ende, er hat sich so auf seine Frau und seine Tochter gefreut, hat noch Geschenke eingekauft. Das trifft einen natürlich persönlich und hinterlässt einen schockartigen Zustand.
Es hätte jedem von uns passieren können, allein an diesem Tag waren vier Rotkreuz-Autos auf dieser Strecke unterwegs. Diese Attacke war sehr schockierend für uns, wir wissen nicht, warum das passiert ist, das macht es schwierig, die Lage und die tatsächliche Bedrohung einzuschätzen. Den ganzen Krieg über haben wir hier gearbeitet, seit 1980 ist das Rote Kreuz ohne Unterbrechung im Irak. Die Leute im Irak kennen uns und wissen, dass wir unabhängig sind und die ganze Zeit über geholfen haben. Bisher hatten wir das Gefühl, dass wir Vertrauen genießen. Jetzt müssen wir alles hinterfragen.
Der einzige Unfall in diesen 23 Jahren war der Tod eines Mitarbeiters im April, der in Bagdad in ein Kreuzfeuer geraten ist. Damals war ich noch in Österreich – ich erinnere mich, dass ich am Tag vorher meiner Mutter gesagt habe, dass ich in den Irak gehe. Ich habe sie dann beruhigt.
Auf der praktischen Ebene sind Entscheidungen getroffen worden. Die Sicherheitsvorkehrungen für Rotkreuz-Mitarbeiter wurden verstärkt. Unser Bewegungsrahmen in der Stadt ist auf ein Areal eingeschränkt, das ungefähr so groß ist wie die Fläche zwischen Karlsplatz, Wienzeile und Wiedner Hauptstraße. Es gibt nur noch ein Restaurant in ganz Bagdad, in das wir gehen dürfen. Die Ausgangssperre ist wieder auf acht Uhr abends vorverlegt worden, wir fahren nicht mehr in unseren markierten Autos, ein Shuttleservice wurde aufgebaut. Die Bewegungsfreiheit ist jetzt mehr eingeschränkt wie kurz nach dem Krieg. Manchmal fühlt man sich wie eingesperrt in diesem Schutzwall.
Am Anfang, kurz nach dem Krieg, war Ausnahmezustand. Langsam ist alles ins Laufen gekommen, täglich konnte man Fortschritte beobachten. Wir hatten uns daran gewöhnt, im ganzen Land präsent zu sein, herumzufahren, uns zu bewegen, die Spitäler zu besuchen und zu beliefern. Jetzt ist wieder alles anders geworden. Wir haben die Hilfsoperationen im Land noch nicht wieder hochgefahren, die Verantwortung für jeden Mitarbeiter ist das Wichtigste.
Solange wir nicht wissen, wie bedrohlich die Lage ist, kann man die Leute nicht der Gefahr aussetzen. Einige der Rotkreuz-Aktivitäten laufen zurzeit reduziert, für uns gibt es psychologische Betreuung und die internationalen Mitarbeiter, die Angst haben, können das Land verlassen. Es werden wohl einige von uns internationalen Mitarbeitern erst einmal nach Hause fliegen und dort abwarten.
Bei allem Entsetzen und persönlicher Beteiligung darf man aber nicht übersehen, dass auch das irakische Volk Ziel von Attacken ist. Entführungen und Überfälle sind an der Tagesordnung und die Leute hier haben Angst.
Ich habe bald turnusmäßig meine zehn freien Tage, die werde ich in Jordanien verbringen und dann wieder nach Bagdad zurückkommen. Ich hoffe, dass es dann weitergeht. Weil wir wollen ja weiter arbeiten für die Leute im Irak, es tut uns leid, dass wir manche Aktivitäten nach den Trauertagen aus Sicherheitsgründen noch nicht wieder aufnehmen konnten. Die Arbeit geht trotzdem weiter. Gut 700 Mitarbeiter des irakischen Roten Halbmonds sind nach wie vor ununterbrochen im Einsatz.
Auch der Suchdienst für vermisste Angehörige läuft schon wieder auf Hochtouren. Inzwischen warten täglich gut tausend Menschen vor unserem Büro auf die Möglichkeit, mit Verwandten telefonieren zu können. Um sie vor der sengenden Sonne zu schützen, haben wir den Vorplatz überdacht. Fliegende Händler haben rundherum Marktstände errichtet, um die Wartenden zu versorgen.
Ich fühle mich nicht bedroht oder habe das Gefühl ich will da weg. Ganz im Gegenteil, ich möchte weitermachen und hier bleiben. Aber es sind eben Strange Days. Du versuchst, nicht daran zu denken, weiterzumachen, ein normales Leben unter diesen Umständen zu führen. Zwischen Arbeit und Ausgangssperre versuchst du dich noch schnell zu treffen. Gestern haben wir zwischen sechs und acht Uhr abends ein „Fastfood-Barbeque“ veranstaltet – schnell einheizen, schnell grillen, schnell essen und schnell nach Hause.