Gestern habe ich das bisher ungewöhnlichste Souvenir eines RK-Einsatzes bekommen: eine Gewehrkugel.
Sie lag auf dem flachen Dach der Einsatzzentrale des Libanesischen Roten Kreuzes in Wadi Khaled, die sich direkt an der Grenze zu Syrien befindet. In die Stadt Homs – die vor ein paar Monaten so stark umkämpft war – sind es knapp 20 Minuten mit dem Auto. Diese Rotkreuz-Dienststelle wurde temporär errichtet, nachdem immer mehr verwundete Menschen aus Syrien in den Libanon geflohen und auf medizinische Versorgung angewiesen sind. Vor zirka drei Wochen wurde das Gebäude während des nächtlichen Beschusses der Grenze von einer Granate getroffen. Zum Glück gab es keine Verletzten – trotzdem steckt der Schock tief, auch wenn die Kolleginnen und Kollegen meinen, dass solche Situationen im Libanon zur täglichen Normalität gehören.
Manche der verwundeten Flüchtlinge wurden in Syrien notoperiert, viele bekommen aber ihre Erste Hilfe von den Freiwilligen des Libanesischen Roten Kreuzes. Danach werden sie in einem Rettungsauto in eines der umliegenden Spitäler gebracht. Nachdem die Verletzungen in Syrien nicht sofort behandelt wurden, sind sie meist stark infiziert und können dadurch nicht gleich genäht oder operiert werden. Das Internationale Rote Kreuz (IKRK) hat vor ein paar Wochen Chirurgen und Krankenschwestern im Libanon dazu ausgebildet, Kriegsverletzungen zu behandeln.
Im Spital in Tripoli habe ich gestern mit einer jungen Frau gesprochen, die bereits seit drei Monaten behandelt wird. Eine Bombe hat das Haus ihrer Familie zerstört und sie wurde dabei am Bein schwer verletzt. Durch die Infektion der Wunde konnte sie bisher nicht operiert werden. Als ich mit ihr sprach, begann sie zu weinen, weil sie sich Sorgen wegen der weiteren Behandlung machte und ihre Kinder in Syrien bei Verwandten zurückgeblieben sind. Diese Ungewissheit ist eine große psychische Belastung für die Flüchtlinge – auch für jene, die körperlich gesund sind.
Positiv ist, dass es im Libanon eine relativ gute Infrastruktur für die Versorgung der syrischen Flüchtlinge gibt. Das Land hat im Laufe seiner Existenz eine Menge Erfahrung im Umgang mit humanitären Situationen gesammelt und die Menschen reagieren flexibel. Durch die engen Verbindungen mit Syrien konnten viele der Flüchtlinge bei befreundeten oder verwandten libanesischen Gastfamilien untergebracht werden. Sofern sie sich registrieren lassen, bekommen die Flüchtlinge Unterstützung von der Regierung, der UNO oder lokalen Hilfsorganisationen. Viele syrische Familien sind aber nicht registriert, weil sie Angst haben, dass ihre Daten weitergegeben werden, und ihre Angehörigen zu Hause bedroht werden.
Jene Flüchtlinge, die keinen Platz bei Gastfamilien gefunden haben, werden in Notunterkünften einquartiert, wie in jener Schule in Wadi Khaled, die ich gestern besucht habe. 130 Menschen wohnen in der Schule: Männer, Frauen und Kinder – nur ältere Menschen nehmen die Strapazen der Flucht meist nicht in Kauf und bleiben in Syrien. Aisha, Mutter von sechs Kindern, hat vor mehr als einem Jahr ihre Tochter bei jenem Bombenangriff verloren, der auch ihr Haus zerstörte. Daraufhin hat die Familie ein paar Sachen gepackt und ist über den Grenzfluss in den Libanon gegangen. Sie teilt sich nun mit ihrer Familie ein ehemaliges Klassenzimmer, und hat mir erzählt, dass das Leben im Notquartier weiter geht und dass zwei der jungen Flüchtlingsfrauen schwanger sind.
Ob ich nicht ihren Sohn heiraten könnte, hat sie mich im Scherz gefragt? Ich meinte, dass ich ihm keine gute Frau sein werde, und wir haben beide herzhaft gelacht.