Unter dem Titel: IRAK – mein Tagebuch der Hilfe berichtete Martina Schloffer im Jahr 2003 direkt aus Bagdad, wo sie von Mai bis September 2003 als Delegierte des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz stationiert war. Wir veröffentlichen dieses Tagebuch nun auch in unserem Einsatzblog.
Die Sicherheitslage in Bagdad ist tagsüber wieder gespannter. Wir hören Berichte von Anschlägen und Schießereien. Aber obwohl die Stadt nervöser wirkt als in den vergangenen Wochen, kann man sich durchaus auf die Straßen trauen. Wir Rotkreuz-Mitarbeiter haben inzwischen ein feines Sensorium dafür entwickelt, wo wir uns wie bewegen. Es gibt Stadtviertel, in denen wir uns nur bis am frühen Nachmittag aufhalten. Dann leeren sich die Straßen und es wird unangenehm. Nach wie vor sind unsere Teams täglich in der Stadt unterwegs, machen Besuche und beliefern Spitäler.
Die Unparteilichkeit und Neutralität des Roten Kreuzes hilft uns bei der täglichen Arbeit sehr. Wir ernten die Früchte unserer Hartnäckigkeit, mit der wir unser Schutzzeichen gegen die Vermischung mit Politik oder Militär verteidigen. Die Leute vertrauen dem Roten Kreuz. Sie wissen und haben gesehen, dass wir einzig und allein da sind, um zu helfen. Und zwar allen zu helfen, ohne Unterschiede zu machen.
Bei der Verteilung von Lebensmitteln und Material arbeiten wir (das Internationale Komitee vom Roten Kreuz) verstärkt mit unserer Schwesterngesellschaft, dem Irakischen Roten Halbmond, zusammen. Gerade im Norden des Landes ist der Zugang zur Bevölkerung über ihre eigenen Landsleute, die als Freiwillige für den Roten Halbmond arbeiten, sehr wichtig. Gemeinsam versorgen wir Familien, die sich bei uns melden.
Vor den Amtsgebäuden finden in letzter Zeit öfter Demonstrationen statt, die aber in der Regel nicht gewalttätig sind. Die Leute sind enttäuscht, beginnen zu streiken, weil sie noch immer keine Gehälter bekommen haben. Die Lage ist für die Bevölkerung sehr schwierig. Fast täglich tauchen neue Probleme auf, bei deren Lösung viele auf sich alleine gestellt sind.
Zum Beispiel kehren im Augenblick Familien zurück, die das Land während des Saddam-Regimes verlassen haben, es verlassen mussten. Sie finden ihre Häuser von anderen bewohnt vor. Diese haben die Häuser rechtmäßig erworben und plötzlich steht der ursprüngliche Eigentümer vor der Tür. Im Grunde haben beide ein Recht auf das Haus, aber einer von beiden sitzt dann auf der Straße.
Bei uns geht man mit so etwas vor Gericht, aber eine juristische Struktur fehlt hier vollkommen. Das sind neue Probleme, mit denen die Leute konfrontiert sind und die auch neue Not und Armut produzieren, weil vermehrt Leute ohne Dach über dem Kopf sind.
Ich kann keinen Vergleich zu der Situation vor dem Krieg ziehen, weil ich erst danach ins Land gekommen bin. Ich sehe aber, wie viele Probleme die Bevölkerung hat und wie schwierig es ist für die Leute ist, sich zu Recht zu finden.
Ein massives Problem, das alle hier betrifft, ist das immer noch fehlende Management der Stadtverwaltung. Dadurch entstehen ständig kurzfristige Notsituationen, die absolut nicht nötig wären. Zum Beispiel streikte letzte Woche das gesamte Personal des unter öffentlicher Verwaltung stehenden Medikamenten-Depots und da war die Hölle los.
Inzwischen ist ja zum Glück mein Kollege George McGuire, auch ein Österreicher, eingetroffen. Als Cheflogistiker für den gesamten medizinischen Bereich organisiert er die Medikamentenlieferungen. Das sind tägliche Meisterleistungen. Am Funkgerät kann ich die verzweifelten Rufe von dort nach da verfolgen, die losgehen, wenn zum Beispiel das Depot bestreikt wird. Oder wenn aufgrund von Streiks Lkws nicht abgeladen werden können, dann können in weiterer Folge Spitäler nicht beliefert werden und die Lieferung muss in ein Lagerhaus umdirigiert werden. Ich bin unheimlich stolz auf George, der da draußen steht und organisiert und schwitzt und dann daran scheitert, dass eine Lieferung nicht übergeben werden kann, weil der Ansprechpartner nicht da ist.
Heute habe ich Besuch aus Österreich bekommen. Ein ehemaliger Kollege aus Wien war da und er hat mir Sonnenblumenbrot und Käse in einem richtigen Billa-Sackerl mitgebracht! Das ist ein Schatz, den ich mit ausgewählten Freunden sehr genießen werde.
Fernsehen haben wir zuhause keines mehr, weil unsere Satelliten-Schüssel kaputt ist. Es geht uns aber auch nicht ernsthaft ab, wir unterhalten uns gut, spielen alle möglichen Spiele. Die Ausgangssperre ab acht Uhr ist eher das Problem für das soziale Leben. Denn wir arbeiten bis sieben – eine Stunde ist für einen geselligen Abend schon etwas kurz. Deswegen hat es sich eingebürgert, Geburtstagsfeiern ab sechs einzuberufen.