„Die Neutralität erfordert wirkliche Selbstbeherrschung. Sie ist eine Disziplin, die man sich auferlegt, ein Zügel, den man dem impulsiven Drang der Gefühle anlegt.“Jean Pictet
Warum Neutralität und Unparteilichkeit für das Rote Kreuz in Österreich genauso relevant sein können, wie in der Schweiz und in Syrien.
Eine Privatexegese.
Am österreichischen Wahltag zur Nationalratswahl habe ich in meiner Timeline wieder einige Wahlaufrufe gelesen, darum habe ich mich zu einem Posting hinreißen lassen, das durchaus hohe Zustimmung erhalten hat.
Die Kommentare – manche durchaus kritisch – haben mir gezeigt, dass ich eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Thema anstreben sollte, vielleicht mittels diesem Blogpost, damit auch klar ist, warum ich diese Meinung habe. Wird diese deutlich elaboriertere Perspektive dann auch von so vielen Menschen geteilt?
Nach ein paar theoretischen Einleitungen und verschiedenen Fragen, die ich wohl auch nicht lösen kann, möchte ich Euch zum Ungehorsam aufrufen, nicht zum Einhalten zusätzlicher Regeln.
Auch wenn ich der Meinung bin, dass der kategorische Imperativ die Grundlage jeglichen Handelns sein sollte – für mich selbst halte ich es, seit dem ich beim Roten Kreuz angestellt bin, auch mit der Politik so –, so soll dieser Beitrag nicht als kanonische Vorschrift verstanden werden, sondern als Impuls für eine intensive Diskussion über jene Werte, die von vielen in der Organisation als zentral angesehen werden. Dass es sich dabei um eine (nämlich meine) Privatmeinung handelt, soll ebenfalls dezidiert festgehalten werden.
Wie schon die Einleitung mittels philosophischer Verweise zeigt, geht es hier um Kategorien des Denkens und Handelns, um theoretische Ideale, die anzustreben sind.
Menschlichkeit zuerst.
Wir sind da, um zu helfen. Aus Liebe zum Menschen. Das sind die zentralen Werte des Österreichischen Roten Kreuzes, die auch im Leitbild von den Leitgedanken – man kann fast sagen – umrahmt werden. Menschlichkeit, also das Leid anderer zu sehen und zu erkennen und situationsadäquat Hilfe zu leisten, ist der Kern des Rotkreuz-Handelns und der Aufgabe, die wir uns selbst gegeben haben. Sämtliche anderen Grundsätze – so sagt das auch Jean Pictet, der die Rotkreuz-Grundsätze einst für die Rotkreuz-Konferenz in Wien im Jahr 1965 zusammengefasst und ergänzt hat – sind Hilfskonstruktionen, um den Grundsatz der Menschlichkeit adäquat umsetzen zu können. Der humanitäre Imperativ – zu helfen, wenn Hilfe benötigt wird – als selbst auferlegte Pflicht ist sozusagen Kernziel unseres Tuns, das mit weiteren Zielen – als Grundsätze der internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung bezeichnet – gestärkt wird.
Privat und oder öffentlich?
Simon schreibt im Rahmen der interessanten Diskussion meines Postings einen Gedanken, den ich hier gerne ebenfalls veröffentlichen möchte:
Weil sich hier viel um die Grundsätze “im Dienst” vs “privat” dreht: Persönlich finde ich, dass sich für einen überzeugten RK-MA die Frage nach der “Befolgung” der Grundsätze im Dienst vs. Privatleben gar nicht stellen kann. Für mich kann ich sagen, dass ich beim RK bin weil ich mich aus meinem Privatleben heraus mit den 7 Grundsätzen identifiziere und nicht umgekehrt.
Diese Perspektive zeigt sehr schön einerseits die persönliche Beziehung zwischen Individuum und Gruppe und die Internalisierung der Organisationsideale einerseits, bzw. das was Pierre Bourdieu als „Illusio“ bezeichnet, die feldimmanenten Spielregeln, die mit dem Eintritt akzeptiert werden. Andererseits zeigt es auch, dass sich für eine Organisation die „richtigen“ Personen mit dem richtigen „Setting“ treffen müssen, um überhaupt Teil des „Spiels“ zu werden. Möglicherweise kann aus dieser Perspektive auch die Diskussion rund um persönliche Freiheit und Einschränkungen derselben als Kampf um die Deutungsmacht im Feld interpretiert werden?
Homo Sociologicus 2.0?
Es gibt leider – zumindest ist das die gängige Interpretation – keine unterschiedlichen Rollen, in die man mit jeweils voneinander getrennten „Privatsphären“ schlüpfen kann. Hier der Familienvater, da der Notfallsanitäter, dort der Bezirksstellenverantwortliche und zu guter Letzt der Fußballfan oder der Lokalpolitiker. Das führt zu Rollenkonflikten bei differenten Normen, die jeder schon erlebt hat. Rollenkonflikte, die durch die Globalisierung und Integration unterschiedlichster eigener Anspruchsgruppen in nur einem einzigen Kanal – auf Facebook – viel häufiger auftreten, als das früher der Fall war.
Andererseits führt es auch zu Ergänzungen und Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten. Genau das ist ja der Grund, warum man vielerorts gut vernetzte Regionalpolitiker oder ehemalige Volksvertreter in Rotkreuz-Funktionen gewählt hat, damit sie ihre Netzwerke mitnehmen. Doch diese Netzwerkerweiterung wirkt in beide Richtungen, nicht nur das Rote Kreuz erweitert die Netzwerke in Richtung Parteien, sondern auch andersrum funktioniert das Spiel.
Handlungsfreiheit durch Äquidistanz
„Um sich das Vertrauen aller zu bewahren, enthält sich die Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung der Teilnahme an Feindseligkeiten wie auch, zu jeder Zeit, an politischen, rassischen, religiösen oder ideologischen Auseinandersetzungen.“ So paraphrasiert das Rote Kreuz seinen Grundsatz der Neutralität.
Grundproblem, und so schildert das auch Pictet in seiner Interpretation der Grundsätze, ist immer der Zugang zu den Menschen, die unsere Hilfe brauchen. „Neutralität hat keinen moralischen Wert an sich. Sie kann nur in Abhängigkeit von den Umständen bewertet werden,“ sagt Pictet (J. Pictet, Die Grundsätze des Roten Kreuzes, Genf und Bonn 1990, S 57).
Der Zugang kann einerseits durchaus physisch sein, im Bereich der heutigen Probleme geht es durchaus auch um den kommunikativen und sozialen Zugang, um das „going native“. Sobald man nach außen als nicht neutral, also als parteiisch wahrgenommen wird, so ist man entweder Freund oder Feind. In Konflikten – aber nicht nur dort – die denkbar schlechteste Variante, was den breiten Zugang betrifft.
„Neutralität und Unparteilichkeit wurden oft miteinander verwechselt“, so Pictet weiter. „[…] Der Neutrale weigert sich, ein Urteil zu fällen, der Unparteiliche trifft dagegen eine Entscheidung nach vorher festgelegten Regeln.“
Die zu feste Umarmung und Vernetzung mit politischen Parteien führt in einem Gesellschaftssystem, wie dem österreichischen automatisch dazu, dass man seine eigene Handlungsfreiheit einschränkt, da man vielerorts das Vertrauen verliert. Einerseits dadurch, dass man im Habitus „Partei-“ politisch wird, andererseits, dass die Handlungsoptionen der anderen „Parteien“ nicht (mehr) zur Verfügung stehen. Sich das Vertrauen aller zu erhalten, so ist die Einleitung zur Erklärung dieses Grundsatzes und das Vertrauen ist unser höchstes Gut zum Zugang zu allen Betroffenen.
Privatmeinung vs. Organisationsmeinung
Natürlich kann die Privatmeinung eines Rotkreuz-Mitarbeiters nicht automatisch jene Meinung sein, die auch die Organisation vertritt. Andererseits kann es für viele Menschen hilfreich sein zu wissen, wie das Rote Kreuz über dies oder jenes denkt, um sich selbst eine Meinung dazu bilden zu können. Wenn es nun in Richtung öffentliche Meinung oder veröffentlichter Meinung geht, so kann dafür aus meiner Sicht die Social Media Policy des Roten Kreuzes als Richtschnur herangezogen werden:
Postmoderne Kommunikation lässt die Grenzen zwischen beruflicher und privater Kommunikation verschwimmen. Noch unklarer ist die Situation im Bereich von freiwilligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Wann spricht man für das Rote Kreuz, wann ist man nur von seinem Engagement mitbeeinflusst, wann ist man ganz privat?
Daher ist immer der „gesunde Menschenverstand“ gefragt, wenn man in sozialen Netzwerken auftritt. Je mehr man sich selbst im Umfeld des Roten Kreuzes positioniert, umso mehr muss man auch mit seinen Aussagen aufpassen.
Wenn das eigene Profilfoto beispielsweise in Rotkreuz-Uniform aufgenommen wird, dann ist es nicht angebracht, parteipolitische Statements abzugeben oder sich in einen (partei-) politischen Diskurs einzumischen.
Social Media Policy des Österreichischen Roten Kreuzes
In der Diskussion rund um das bereits zitierte Posting (s.o.) gab es mehrfach die Kritik, die freie Meinungsäußerung würde bei Beachtung solcher Regeln eingeschränkt – ich übertreibe jetzt mal: oder sogar diktaturhaft verboten. So war das gar nicht gemeint. Aus meiner Sicht geht es auch nicht darum, ob jemand in sozialen Netzwerken, den einen oder anderen Politiker liked, oder „in real life“ auf der einen oder anderen Wahlveranstaltung ist (solange er das nicht in Uniform auf der Bühne tut). Wesentlich erscheint mir, die Kategorie der Neutralität (Im Sinne der Pictet‘schen Tugendhaftigkeit) einfach mitzudenken, in Kommunikationsaktivitäten, die man als Rotkreuz-Vertreter an den Tag legt. Jetzt meine ich Kolleginnen und Kollegen, die auf allen Ebenen dazu legitimiert sind, für das Rote Kreuz zu handeln und das auch immer wieder tun.
Ein No-Go sind da für mich Aufrufe À la „Wählt heute unbedingt ****“, oder auch: „Ja nicht **** wählen“, speziell, wenn die Poster dieser Informationen im eigenen Freundeskreis eigentlich hauptsächlich Rotkreuz-KollegInnen haben, ein Gutteil davon als in der einen oder anderen Art dienstlich unterstellte Personen. Das meinte ich mit ExponentInnen auf allen Ebenen.
Ein Imperativ zu handeln ist auch ein Imperativ aufzuschreien
Das humanitäre „must-do“ unser – zentraler Grundsatz der Menschlichkeit – beinhaltet meiner Meinung nach auch, dass man aufsteht und Nein sagt, wenn es notwendig ist, um menschliches Leid zu verhüten und um besonders vulnerable Gruppen zu schützen. Dass man Lösungen aufzeigt und auch Kritik äußert, wo dies notwendig scheint. Doch das muss eine Kritik in der Sache sein, Lösungen stehen da im Mittelpunkt, nicht Parteien.
Die geäußerte Kritik von Auslandshilfechef Max Santner betreffend der Syrien Flüchtlings-Auswahl durch das Innenministerium ist ein gutes Beispiel für diese Vorgangsweise. Aber auch viele andere Themen der Rotkreuz-Gesellschaftspolitik machen genau das: die Fortführung des humanitären Imperativs im Bereich des öffentlichen Diskurses.
Persönliche Einschränkung vs. Aufruf zum Ungehorsam
Auch wenn ich gerne so etwas wie ein Fazit schreiben möchte, schaffe ich es nicht, eine einzige allgemein gültige Regel abzuleiten. Das Leben ist komplex, so ist auch die Kommunikation nicht einfacher. Einerseits – und das zeigt mir die spannende und kontroversielle Diskussion unter meinem Posting – beschäftigt das Thema stark, viele hätten gerne Detailrichtlinien, die man so einfach nicht geben kann. Die Welt wird zudem jeden Tag noch komplexer und fraktaler, so wie das auch unsere Organisation wird. „One Size fits all“ funktioniert schon bei den HWS-Schienen nicht, wie soll das bei Regeln für soziale Netzwerke funktionieren. So wie im Rettungsdienst – um beim Bild zu bleiben – kommt es auf den richtigen Hausverstand an, „educated guess“ nennen das die Britten, nicht nur in der Kaffeewerbung.
Versteht den Blogpost als privaten Aufruf zum Ungehorsam, wenn es darum geht, die Menschlichkeit gegen andere Werte zu verteidigen, wenn es darum geht, sei es on- oder offline Menschen zu unterstützen, Betroffene zu stärken oder unmenschliche Verhaltensweisen zu kritisieren.