Mein Tagebuch der Hilfe. Amman, 28. August ’03

Martina Schloffer in bagdad
Martina Schloffer in Bagdad

Unter dem Titel: IRAK – mein Tagebuch der Hilfe berichtete Martina Schloffer im Jahr 2003 direkt aus Bagdad, wo sie von Mai bis September 2003 als Delegierte des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz stationiert war. Wir veröffentlichen dieses Tagebuch nun auch in unserem Einsatzblog.

Zurück nach Bagdad nach 10 Tagen in Jordanien, Totes Meer und der Ruinenstadt Petra, vom Strand aus kann ich das Westjordanland sehen. „Compensation“ heißt der turnusmäßige Urlaub für die Delegierten des IKRK. Auf die Arbeit in Bagdad habe ich mich schon gefreut, aber mein Aufenthalt war nur mehr kurz. Schon bei meiner Ankunft habe ich klar gespürt, wie sehr sich die Sicherheitslage verschlechtert hat. Immer mehr Drohungen, immer mehr Anschläge auf die Coalition Forces. Immer mehr Anrufe von Journalisten aus der ganzen Welt, die aus erster Hand wissen wollen, wie es steht.

Nach den Mühen der Ebene, den täglichen, stillen Dramen, werden wir nicht gefragt: Besuche von Gefangenen und zivilen Internierten, deren einzige Verbindung zur Außenwelt wir sind. Der Austausch von Rotkreuz-Botschaften, deren einzige Möglichkeit, mit ihren Familien in Kontakt zu bleiben. Und die nicht abreißende Suche nach den Vermissten. Täglich kommen noch immer hunderte Menschen zur Rotkreuz-Delegation, um Suchanträge abzugeben, nachzusehen, ob Nachrichten ihrer Angehörigen da sind oder ob wir jemanden gefunden haben. Jedem dieser Menschen wird individuell geholfen. Der Platz vor der IKRK-Delegation hat zum Schluss schon fast Jahrmarkt-Charakter angenommen. Händler haben ihre Stände aufgebaut, um Snacks und Trinkwasser an die Wartenden zu verkaufen. Im Land geht auch die Versorgung der Spitäler und die Wiederherstellung der Wasserversorgung weiter – für die internationale Presse Schnee (oder besser: Sand) von gestern. Ständig muss ein neuer Hund durchs Dorf laufen.

Dann der Anschlag auf das Canal-Hotel, auf das irakische Hauptquartier der UNO. Ich habe die Explosion gehört, sie aber nicht weiter zur Kenntnis genommen. Die ständigen Schießereien und Explosionen, da fällt eine mehr oder weniger nicht auf, das wird zur Routine. Auch deshalb die immer strengeren Sicherheitsauflagen: Damit die Routine nicht zu Nachlässigkeit wird. Schon bei meiner Rückkehr aus Jordanien galten wieder dieselben strikten Sicherheitsrichtlinien wie unmittelbar nach dem Krieg: Morgens direkt in die Delegation, abends direkt zurück nach Hause. Ständiger Funkkontakt mit der Delegation, damit die Kollegen wissen, wo man gerade ist. Ausgangssperre. Keine Einkäufe mehr, keine Restaurantbesuche mehr, alles, um das Risiko zu vermindern, versehentlich etwa in ein Feuergefecht zu geraten. Gedanken an unseren Kollegen und Freund Nadisha Yasassri, der am 22. Juli in seinem Rotkreuz-Jeep erschossen wurde.

Erst als nach der Explosion am 19. August mehr Hubschrauber in der Luft und mehr Ambulanzen in den Straßen sind als üblich, habe ich gewusst, dass etwas anders ist als sonst. Dann war aus meinem Fenster schon die riesige Rauchwolke zu sehen und das Ausmaß des Anschlages bald klar. In dem Gebäude waren auch UN-Mitarbeiter, mit denen ich gearbeitet habe. Klar war aber vor allem noch etwas: Auch die humanitären Organisationen sind jetzt nicht mehr vor Anschlägen gefeit.

Es hat keine drei Tage gedauert, um die komplette Delegation umzuorganisieren. Damit die Arbeit mit möglichst wenigen internationalen Mitarbeitern weitergehen kann, die am stärksten gefährdet sind. Bewaffneter Schutz kommt für uns nicht in Frage. Wer den in Anspruch nimmt, ist für oder gegen etwas oder jemanden, wird Partei. Aber wir kommen nicht als Feinde. Humanitäre Organisationen sind abhängig von der Akzeptanz ihrer Arbeit. Wir können unsere Hilfe niemandem aufzwingen. Doch in den allermeisten Fällen ist es möglich, sie durch Überzeugungsarbeit durch die Checkpoints zu bringen. Dazu müssen wir jeden Konfliktteilnehmer davon überzeugen, einen humanitären Freiraum offen zu lassen, damit wir durchkommen. Es ist wichtig, für dieses bisschen Akzeptanz, das wir brauchen, zu kämpfen. Mit Engelszungen zu reden, während jemand mit seinem Gewehr vor deinem Gesicht herumfuchtelt. Die Akzeptanz ist gegeben, wenn unsere Hilfe als neutral, unabhängig und unparteilich angesehen wird. Wenn die humanitäre Aktion keine Partei ergreift, keine Unterscheidung zwischen den Opfern vornimmt, ausschließlich nach dem Maß der Not hilft, nur im Interesse der Opfer handelt und dabei keine versteckten Hintergedanken politischer Natur hat.

Für uns ist diese Einstellung selbstverständlich. In einer Situation wie jetzt muss man sich allerdings fragen, ob alle wissen, dass wir unsere Hilfe neutral und unparteilich leisten.

Unter den internationalen IKRK-Mirarbeitern, die schließlich aus Bagdad ausgeflogen wurden, war auch ich. Ich habe soviel wie möglich an Kollegen, die geblieben sind, weitergegeben, damit sie weitermachen können. Von Amman aus mache auch ich „per Fernsteuerung“ weiter. Das ist extrem frustrierend. Die Kollegen vor Ort müssen jetzt mit weniger Leuten wesentlich mehr Aufgaben unter wesentlich schwierigeren Bedingungen erfüllen. Den Preis zahlen die Menschen, die auf unsere Hilfe angewiesen sind. Denn es ist schwieriger geworden, Medikamente zu verteilen, Spitäler zu besuchen, das Water and Sanitation-Programm weiterzuführen. Der Bedarf an Hilfe wird nicht geringer, jeden Tag stehen wieder hunderte Menschen vor der Delegation. Man leidet mit, kann aber selbst kaum mehr mithelfen. Man lässt Freunde zurück, mit denen man in guten Momenten zusammen gefeiert und in schlechten gemeinsam getrauert hat. Man hat sich nicht einmal richtig von ihnen verabschieden können und weiß nicht, ob man zurückkommen wird.

Hier in Amman haben auch die nächtlichen Schachspiele bei 45 Grad aufgehört. Ich habe vor meinem Abflug rasch gepackt, für mein Schachbrett war kein Platz mehr, und ich habe es in Bagdad zurücklassen müssen. Diese Woche bin ich noch in Amman. Wo ich nächste Woche sein werde, weiß ich selbst noch nicht.

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