Unter dem Titel: IRAK – mein Tagebuch der Hilfe berichtete Martina Schloffer im Jahr 2003 direkt aus Bagdad, wo sie von Mai bis September 2003 als Delegierte des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz stationiert war. Wir veröffentlichen dieses Tagebuch nun auch in unserem Einsatzblog.
Seit Wochen arbeiten wir alle immer noch unsere 12 Stunden pro Tag. Nach einem anstrengenden Tag kommen meine zwei Kollegen und ich um acht Uhr abends in unser Wohnhaus zurück. Der eine ist Wasserspezialist, der andere leitet die Orthopädie-Station des Roten Kreuzes.
Beim Abendessen reden wir über die Eindrücke des Tages. Wir versammeln uns um den Tisch wie eine Familie, in der alle aus der gleichen Arbeitssituation nach Hause kommen. Deshalb pflegen wir einen sehr verständnisvollen Austausch untereinander, wir erleben ähnliche Situationen, jeder kann nachvollziehen, was der andere meint. Wir bemühen uns sehr, einander zuzuhören. Ich habe das Gefühl die Eindrücke dadurch gut zu verarbeiten und glaube nicht, dass bei mir etwas „stecken“ bleibt.
Das Fernsehen taugt nicht zur Ablenkung oder Entspannung, denn es gibt kaum etwas zu sehen. Manchmal spielen wir nach dem Essen noch ein wenig Karten oder Schach. Aber meistens hat uns das Tagesgeschehen so geschafft, dass wir um zehn ins Bett fallen. Dann laufen natürlich die Gedanken weiter, das Gehirn schaltet nicht ab, weil man verlässt die Situation nicht.
Schon beim Abendessen hört man erste Schießereien, die immer wieder die Nachtruhe zerreißen. Da ist es wichtig, sich nicht alleine gelassen zu fühlen. Unser Team funktioniert wie eine große Familie, wir passen aufeinander auf, halten Augen und Ohren offen und sind sensibel für Veränderungen beim anderen. Wenn wir zum Beispiel bemerken, dass jemand ruhiger wird, aufhört über seine Erlebnisse zu reden, dann gehen wir auf denjenigen zu.
Auch die irakischen Mitarbeiter brauchen viel Verständnis. Denn sie gehen nach der Arbeit nach Hause und dort warten ihre eigenen Probleme auf sie. Tagsüber helfen sie ihren Landsleuten, abends sind sie noch für die Nöte ihrer Frauen, Kinder oder Männer da. Sie leben im Ausnahmezustand.
Ein ganz wichtiger Teil unserer Arbeit ist nach wie vor die Herstellung von Familienkontakten. Mittlerweile stellt das Rote Kreuz in fast allen Regionen des Landes Satellitentelefone zur Verfügung. Alleine hier in Bagdad sind schon über 2000 Telefonate über unsere Leitungen in das Ausland gegangen. Das öffentliche Telefonsystem funktioniert ja noch immer nicht.
Viele Familien vermissen auch noch Angehörige. Teilweise warten Frauen, Mütter oder Kinder seit über zehn Jahren auf die Klärung des Schicksals ihrer geliebten Familienmitglieder. Jeder einzelne Fall ist sehr aufwändig, aber seine Verfolgung ist außerordentlich wichtig für die Angehörigen, denn sie sind oft seit Jahren in der Hoffnung auf ein Lebenszeichen gefangen. Im Moment werden Massengräber aus den letzten 13 Jahren gefunden und geöffnet. Das Ziel der Identifizierungen ist es, die Familie zu beruhigen und zu informieren. Denn so schrecklich die Nachricht vom Tod eines geliebten Menschen ist, so dringend braucht die Familie Gewissheit, um endlich sich verabschieden zu können und mit der Trauerarbeit zu beginnen.
In den Spitälern gibt es zwar noch Sicherheitsmängel aufgrund der Plünderungen, aber es scheint ruhiger zu werden. Unser Hauptproblem ist allerdings nicht der Mangel an Medikamenten oder medizinischen Geräten, sondern die Logistik. Bei 40 Grad im Schatten müssen die meisten Medikamente mit gekühlten LKWs transportiert werden. Die Gesundheitsbehörden können das nicht bewerkstelligen. Auch die gekühlte Lagerung in den Spitälern kann nicht gewährleistet werden. Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz springen in so einer Situation zwar ein, das öffentliche System muss aber dringend wieder hergestellt werden.
Sehr berührt hat mich die Situation in der psychiatrischen Klinik der Stadt. Die Menschen sind dort vollkommen auf sich selbst gestellt. Weil die Krankenhaus-Mitarbeiter seit Wochen und Monaten nicht bezahlt worden sind, sinkt ihre Motivation massiv. Das Rote Kreuz beliefert das Spital täglich, repariert das heruntergekommen Gebäude laufend – wir haben ein Team, das nur noch dort arbeitet – und täglich verschwindet wieder ein Großteil der angelieferten Hilfsgüter. An einem Tag bringen wir Matratzen für die Kranken, am nächsten liegen die Menschen wieder am nackten Erdboden. Es ist eine Tragödie zu sehen, wie diese hilflosen Patienten dahinvegetieren. Sie bleiben sich selbst überlassen, niemand beschützt sie, außer uns kümmert sich niemand um sie. Aber mit Jammern ist niemandem geholfen. Ich bezeichne mein Gefühl in solchen Momenten als „konstruktives Mitleid“. Konstruktiv deshalb, weil wir da sind und zwar emotional betroffen sind, aber etwas tun können. Wir sehen täglich, wie wir den Menschen helfen können!
Im Straßenbild von Bagdad tauchen immer wieder irreale Elemente auf. Obwohl kaum etwas funktioniert (Telefon, Fernsehen, öffentlicher Transport), gibt es einen Pizzaservice, der unbeirrt seine Kunden beliefert. Seit kurzem sind die Ampeln wieder eingeschaltet – das Problem ist nur, sie schalten nicht um. Vorher hat man sich auf den großen Kreuzungen mit Augenkontakt auf die Vorfahrt geeinigt, das permanente Rot verunsichert jetzt alle. Als gut erzogener Autofahrer hat man schon ein schlechtes Gewissen, wenn man bei Rot einen fünfspurigen Kreisverkehr durchquert.
Ein weiteres Kuriosum ist, dass es zwar sehr viele Informationen gibt, aber alles beruht auf Gerüchten. Es gibt nie etwas Schriftliches. Zum Beispiel der Dollarkurs: Die Wechselkurse werden täglich festgesetzt und mündlich weitergegeben. In der ganzen Stadt halten sich alle Wechselstuben daran, aber es gibt keinen schriftlichen, offiziellen Kurs, den man irgendwo nachlesen könnte. Daher hat Bagdad auch einen anderen Kurz als zum Beispiel Basra.
Gestern habe ich mich auf die große Waage im Lager gestellt, auf der normalerweise die Hilfsgüter für die Beladung der Flugzeuge abgewogen werden. Demnach habe ich in den letzten Wochen gut fünf Kilo rausgeschwitzt. Es hat jeden Tag etwa 40 Grad und auch in der Nacht wird es nicht kühler. Ohne Strom stehen die Ventilatoren und Klimaanlagen. Wenn ich den Leuten sage, ich schwitze, lächeln sie milde, denn eigentlich ist es erst Frühling – die große Hitze kommt erst noch.