Max Winter:100 Jahre alte Sozialreportagen

Gestern war ich im Wien-Museum am Karlsplatz. Die Ausstellung „Ganz Unten“ behandelt das Thema der Entdeckung des Elends in Großstädten.
Unter anderem gibt es interessante und eindrucksvolle Diashows von Bildern um 1900 aus der Wiener Kanalisation, wo damals viele Obdachlose nächtigten.

Insgesamt ist die Ausstellung sehenswert, wenn auch recht klein – Querverweise zu Theoretikern der Ungleichheit, wie Marx oder Bourdieu fehlen komplett, eine Aufarbeitung der Grundlagen und gesellschaftlichen Hintergründe wird nicht gemacht. Auch fehlt mir persönlich ein wenig der Querverweis in die Gegenwart.

Im Museumsshop habe ich dann eine Sammlung von Texten von Max Winter gesehen, die ich mir sofort gekauft habe. Unter dem Titel „Expeditionen ins dunkelste Wien“ wurden von Hannes Haas im Verlag Picus Reportagen von Winter neu herausgegeben, die vor rund 100 Jahren allesamt in der Wiener Arbeiterzeitung erschienen. Als Vorgänger Günter Walraffs wird Winter manchmal bezeichnet, doch aus meiner Sicht trifft es das nicht ganz. Winter war neben seinem journalistischen Engagement auch politisch tätig und brachte es bis zum Wiener Vizebürgermeister. Als Präsident der Kinderfreunde war er auch in der Sozialdemokratie einflußreich.

Die Reportagen selbst – ich konnte nicht umhin am Abend gleich zwei zu lesen – sind anschaulich, drastisch und geben dem Leser das Gefühl, selbst live dabei zu sein; sogar olfaktorische Eindrücke werden riechbar beschrieben. Sei es die Begleitung eines „Strotters“ im Kanalnetz von Rudolfsheim oder eine Nacht im Polizeikommissariat.

Was ein Strotter ist? Ein Interview mit Wiener Kanalarbeitern aus der TAZ klärt auf:

„Früher“, sagt der Pressereferent, während der Kanalarbeiter inhaliert, „da gabs so eine Art Schatzsucher in der Kanalisation, die hat man ‚Strotter‘ genannt, von ’strotten‘, das heißt aussortieren. Das waren Arbeitslose, Arme, die sind in den Kanal gegangen und haben gesucht, weil damals, nach dem Ersten Weltkrieg, da war ja schon eine Schraube wertvoll oder auch altes Fett!“

Das Buch ist aus meiner Sicht sowohl zur Beschreibung Wiens um 1900 geeignet, um die Mozartkugelverklebte und Kaiserin-Sissi lastige Operettenerinnerung an die K&K Reichshauptstadt ein wenig mehr in Richtung historischer Wahrheit hin zu bewegen, als auch zur Beschreibung unterschiedlicher Personengruppen, aus dem soziologischen Blickwinkel.

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